Samstag, 27. Juni 2009

Wo verstarb Frau Wang?


Die Mutter eines chinesischen Ladenbesitzers, hier aus meinem Ort, ist vor Wochen, auf offener Straße zusammengebrochen. Sie war auf dem Weg zum Geschäft ihres Sohnes, der hier in Viertel einen kleinen chinesischen Krimskramsladen hat. Leider kam sie nie an!
Es muss so um die Osterzeit gewesen sein.

Als die Nachricht des Todes von Frau Wang ihre Familie erreichte, war sie bereits mit einem Krankenwagen der Feuerwehr in das Krankenhaus von Almada gebracht worden.

„Wo ist sie gestorben“ wollte der Sohn von Frau Wang wissen.
Vor ihrer Haustür?
Gegenüber der Pastelaria Rolo II?
An der Apotheke?
Bei Lidl, wo sie noch angeblich einkaufen gehen wollte?
Kurz vor seinem Krimskramsladen?
Schon im Krankenwagen oder erst im Krankenhaus?
Über mehrere Tage fragte der Sohn alle Menschen die ihm begegneten und die er kannte und die ihn kannten, ob sie ihm nicht sagen konnten wo genau seine Mutter verstorben war?
Mich hat er unter anderen auch gefragt. Aber ich konnte ihm diese Frage leider nicht beantworten. Keiner aus der Nachbarschaft und von seiner Kundschaft konnte ihm sagen wo seine Mutter genau verstorben war.

Es hat einen simplen Grund, warum der Sohn von Frau Wang unbedingt wissen musste, wo seine Mutter verstarb. Denn für Chinesen ist der Todesort eines nahen Familienangehörigen ein fast heiliger Ort.
Da Chinesen, bis auf ganz wenige Ausnahmen, immer großen Wert darauf legen in heimatlicher Erde bestattet zu werden, und somit die toten Körper immer in ihr Heimatland China ausgeflogen werden, bleibt für die Familienangehörigen, da sie ja dann im Ausland kein Grab des Verstorbenen haben an das sie gehen können, nur die Möglichkeit ihm am Ort seines Todes zu gedenken.

Da es in Europa keine chinesischen Friedhöfe gibt, (oder haben sie schon einmal auf einem deutschen Friedhof ein chinesisches Grab gesehen?) werden alle Leichensärge, europaweit von verschiedenen Fluggesellschaften nach London gebracht, dort „eingesammelt“, und dann einmal die Woche von der ChinaAir in Richtung Peking und Shanghai ausgeflogen.
Wüssten viele Passagiere, das wenn sie ab Lissabon, Frankfurt, Paris oder Brüssel in Richtung London fliegen, sich unter ihnen manchmal die Särge stapeln, dann glaube ich, würden viele nicht mitfliegen!

Das Geschäft der Familie Wang blieb 30 Tage geschlossen. So lange dauert bei den Chinesen die Trauerzeit. Aber da er nach 30 Tagen immer noch nicht wusste wo seine Mutter verstorben war, blieb das Geschäft noch ein Mal 30 Tage geschlossen. Der Sohn von Frau Wang konnte nicht ruhigen Gewissens sein Geschäft eröffnen, solange ihm keiner sagen konnte wo seine Mutter verstorben war.

Zu sagen „keiner konnte ihm sagen wo seine Mutter verstorben war“ entspricht nicht ganz der Wahrheit.
Denn die Feuerwehrleute, die seine Mutter ins Krankenhaus transportiert hatten, mussten ja wissen, wo sie die alte Frau Wang gefunden hatten.
Warum die Feuerwehr von Almada dem Sohn von Frau Wang aber nicht sagte wo sie seine Mutter aufgefunden hatten, bleibt bis heute ein Geheimnis.

Natürlich kursierten hier in der Nachbarschaft alsbald die wildesten Gerüchte: die einen meinten die Feuerwehr würde den Fundort der Leiche nicht verraten, weil sie die „Privatsphäre“ der Toten nicht verletzen wollten.
Andere meinten die Feuerwehr rücke nicht mit dem Fundort heraus, weil sie befürchteten gerichtlich vom Sohn auf irgendeine Art und Weise belangt zu werden.
Wiederum andere meinten Frau Wang hätte ein finsteres Geheimnis, weil ihr Sohn in „schmutzigen Geschäften“ verwickelt sei. Und andere Lästermäuler meinten sogar die Familie Wang stecke mit der chinesischen Mafia unter einer Decke.
Vielleicht sollte ich hier erwähnen, dass Frau Wang, so um die 75 Jahre alt war, und ihre Familie schon seit über 40 Jahren hier in Almada lebt. Ihre Söhne und ihre Enkelkinder sind alle hier in Portugal geboren!

Diese Geschichte die ich hier erzähle, ist mir heute wieder eingefallen, weil ich im Fernsehen gesehen habe, wie ein Kapitän der brasilianische Marine in einem Interview sagte, das, obwohl seit einer Woche keine neuen Leichen des Flugzeugunglücks der Air France 447 im Atlantik gefunden wurden, sie die Suche aus Respekt vor den Angehörigen der Opfer weiter fortführen werde, auch wenn Fachleute meinten die Wahrscheinlichkeit noch Leichen zu finden, wären gleich null.

Wenn ich die Macht und die Möglichkeit hätte, würde ich gerne den Feuerwehrhauptmann, hier aus Almada, mit dem Kapitän der brasilianischen Marine bekannt machen.
Vielleicht könnte dann dieser dem anderen klar machen, was es heißt nicht nur Tote, sondern auch trauernde Familienangehörige und Freunde mit Respekt und Anstand zu behandeln.

Da suchen 4 Schiffe, 1 U-Boot und ein paar Flugzeuge den ganzen Atlantik, dem zweitgrößten Ozean der Welt, nach den Überresten von 228 Leichen ab, und hier in Almada schafft es über Wochen ein Feuerwehrhauptmann noch nicht einmal, nach einem Telefon zu greifen und einem trauernden Sohn zu sagen, wo dessen Mutter verstorben ist.

Aber Gott sei Dank haben sich ein paar pfiffige Anwohner dem Fall angenommen und selbst Recherchen erstellt um herauszufinden wo Frau Wang verstorben ist.
Durch eine Arzthelferin, die hier im Ärztehaus in Feijó arbeitet, und die eine Krankenschwester kennt, die im Krankenhaus arbeitet, wo Frau Wang verstarb, die wiederum selbst einen der Feuerwehrmänner kennt die Frau Wang damals eingeliefert hatten, konnte man nun endlich vor kurzem herausfinden wo denn Frau Wang gefunden wurde als sie starb.

Frau Wang wurde in der Rua Garcia Resende, an der Grundschule, schon am Boden liegend, aufgefunden. Laut des Feuerwehrmanns verstarb sie dann noch im Krankenwagen, bevor sie im Krankenhaus ankam.
An der Grundschule liegen jetzt fast täglich ein paar frische Blumen und eine kleine Kerze auf dem Boden.

Und endlich, endlich konnte Herr Wang sein Krimskramsgeschäft wieder eröffnen!

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